Meine leibliche Mutter habe ich nie wirklich kennengelernt. Unsere Wege trennten sich als ich ca. 2 Jahre alt war. Sie hat – mich eingeschlossen –  insgesamt 6 Kinder gehabt, von zwei Männern und ausser mir waren die anderen fünf alles Mädchen. Ich weiss nicht was für eine Frau sie war, bzw. ist. Ich weiss nur, dass sie irgendwo in Hessen lebt. Ich hoffe sehr, dass es ihr gut geht. Das letzte Mal traf ich sie vor 9 Jahren, wir sind hingefahren um ihr eine sehr traurige Nachricht zu übermitteln – unsere älteste Schwester Lina ist bei einem Auto-Unfall ums Leben gekommen. Lina war mein größter Halt in den kritischsten Phasen meiner Jugend. Sie war es, die in unserer Familie das über Generationen vermittelte Frauenbild, Töchterbild über den Haufen schmiss und sich nahm, was sie wollte. Ihr Leben selbst gestaltete und das mit Erfolg. Alles, was mich heute glücklich macht, habe ich damals von ihr gelernt, auch wenn ich es damals noch nicht verstanden hatte. Sie kämpfte für ihre Unabhängigkeit, für ihre Freiheit, ihre Selbstbestimmung und auch wenn es ein paar Typen an ihrer Seite gab, die ich als kleiner bruder nicht akzeptieren wollte, war sie zum Schluss nie glücklicher. Und ich habe ihre Hand gehalten als sie ihre letzte Reise antrat und ich war nie unglücklicher.

Mein Vater war durch und durch westlich orientiert und dennoch geprägt von islamischen Werten, geboren in einem kleinen palästinensischen Dorf im heutigen Israel, ein paar Jahre bevor dieser Staat offiziell verkündet wurde und seine endlosen Kriege begannen. Er hat als Vater sicher nicht alles richtig gemacht, aber er hat mir die wichtigsten Dinge vermittelt, die ein Vater seinem Sohn vermitteln muss: Respekt für Frauen, für Schwestern, für Mütter und für Töchter. Ausnahmslos und konsequent. Keine religiös verklärte zwei-Klassen Moral, nach der Frauen das wertvollste „Gut“ sind und man sie deswegen „wie einen Goldbarren beschützen muss“. Heisst: Unter Kopftuch und Burka verstecken, damit andere gar nicht erst auf den Geschmack kommen. Dieser mittelalterlichen Logik, der viele – durchaus auch gemäßigte, allerdings augenscheinlich strunzdumme –  Muslime Tag für Tag folgen, liegt der Gedanke zugrunde, das Frauen halt ihr Eigentum sind. Und jedem Vater, der seine Partnerin und Töchter behandelt wie ein ein paar Klunker, die in den Tresor gehören, der seinen Söhnen einen moralischen Kompass vermittelt, der schlimmstenfalls im Ehrenmord endet, fehlt die aufrichtige Liebe und das Wissen, die Erfahrung und die Wärme einer selbstbestimmten Frau. Diese Menschen tun mir aufrichtig Leid und ich wünsche ihnen, dass sie irgendwann einmal in den Genuss dieser Liebe kommen werden um zu verstehen, dass man nicht erst sterben und in einen imaginären Himmel kommen muss, um im Paradies zu landen.

Meine Stiefmutter, die mich als kleinen Jungen in ihre Obhut nahm, war ein Hitlermädchen. 1928 in Potsdam geboren und 11 Jahre jung, als die Deutschen in Polen einfielen. Sie ist Jahre nach dem Kriegsende, 1949 im Alter von 21 Jahren als bildhübsches Mädchen nach Sibirien verschleppt worden. Nur sehr selten und unter körperlichen Schmerzen gelang es ihr, zu erzählen was das russische Militär ihr und anderen Frauen in Gefangenschaft angetan hatten. Sie war 18 Jahre älter als mein Vater und die Ironie der Geschichte wollte es, dass sie diejenige war, die rund 25 Jahre danach meinem Vater ein paar Wohnwagen verkaufte, in meinem Geburtsjahr. Und kurz nachdem Deutschland in seinem wohl dunkelsten Herbst in den späten Siebzigern dem traurigen Showdown einer verunglückten Revolution beiwohnte, erhielt ich als damals Zweijähriger den grünen Pass mit dem goldenen Adler drauf. Meine Stiefmutter kümmerte sich dann um uns Kinder und nach all dem was sie erlebt hatte, war sie denkbar ungeeignet für diesen Job, aber nach einem kinderlosen Leben im gehobenen Mittelstand einer vom deutschen Wirtschaftswunder verdrängten Vergangenheit, war es eventuell auf dem ersten Anblick eine spannende Option, vier arabische Kinder, von denen keines der deutschen Sprache mächtig war, als Stiefmutter zu erziehen. Gestern noch erfolgreich, selbstständige Geschäftsfrau eines florierenden Handelsunternehmens und plötzlich – mit Mitte 50 – noch mal das Abenteuer der Kindererziehung annehmen. Sie wurde ausgelacht und rassistisch beleidigt, gefragt, wie sie sich denn bloss auf einen Araber mit 4 Kindern einlassen kann. Aus der gesellschaftlichen Perspektive der 70er Westdeutschlands war das alles andere als ein regulärer Beziehungs-Stunt. Warum ich all das schreibe? Weil ich ein Produkt all dieser Frauen bin, Meinen Müttern, meinen Schwestern, ja auch meinen Partnerinnen. Ihre Geschichten haben meine Welt überhaupt erst möglich gemacht. Wegen ihnen bin ich hier. Ich habe ihnen alles zu verdanken. Das ist nichts selbstverständliches und es ist nicht nur am heutigen Weltftrauentag relevant. Aber gerade heute. In meinem Film werden die wahren Helden immer Frauen sein.