Es gab Zeiten in meinem Leben, da fiel es mir schwer zu formulieren, wer meine Freunde sind.

Ich war gekidnappt von Einsamkeit, eingesperrt in eine Höhle im kognitiven Nichts. Uns verband eine subversive Interpretation des Stockholmsyndroms.

Die Einsamkeit schenkte mir einen greifbaren Grund für Traurigkeit, sozusagen einen Sinn fürs Leben, und ich gab der Einsamkeit Nahrung, in dem ich die letzten Fenster rund Türen meiner Komfortzone mit Granitplatten verschloss.
In dieser Festung fühlte ich mich sicher. Ich schöpfte eine Vielzahl von Möglichkeiten aus, meine Emotionen gänzlich auszuknipsen, wie das Licht im Wohnzimmer.
Ich wurde zu einem Wesen der Dunkelheit.

Soziale Isolation, so argumentieren diverse Studien, ist der Hauptgrund für Depression, die nicht selten zu suizidalen Gedanken führen.

So fehlten auch mir die Menschen, die mir Anerkennung, Wärme und Zuspruch schenkten, paradoxerweise, wohlgemerkt. Denn diese Menschen waren ja da. Meine Familie zum Beispiel. Und es gab natürlich auch immer Freunde, doch desto mehr ich mich zurückzog, desto weniger war ich logischerweise als Freund interessant. Ich hatte ein einigermaßen soziales Netz, wuchs auf in behüteten Verhältnissen, kannte keinen Hunger, keinen Krieg, keine Vertreibung. Und dennoch war ich gefangen in meinem eigenen Verlies.

Der Schlüssel zu diesem Kerker ging irgendwann im emotionalen Chaos der Adoleszenz verloren und so saß ich da und fristete meiner Existenz in Parallelwelten, die mir gaben, was ich brauchte. Orientierung, Ablenkung, Betäubung.

Genau so geht es Millionen von Menschen heute, überall auf diesem Planeten. Nur wenige dieser Menschen können sich glücklich schätzen, über eine ähnlich intakte, soziale und kulturelle Infrastruktur zu Verfügung, wie sie mir zugänglich war. Und leider sind es immer noch so viele unter dieser Millionen Menschen, die tatsächlich nichts mehr haben. Keine Freunde, keine Familie, kein Netzwerk, von Geld, Besitz oder Sicherheit ganz zu schweigen. Viele von ihnen sind in den letzten Jahren nach Europa gekommen und einige, wenige haben sich, genau wie du und ich in irgendeiner Zeit, ihrer Parallelwelt zugewandt, die ihnen Orientierung, Anerkennung und Zuspruch versprach. Doch sind es oft die falschen Freunde die man dort trifft. Den Dealer. Die Flasche. Oder eine pervertierte Version der Gottesfurcht.

So fand ich eine Antwort auf diese Frage, die mich seit einiger Zeit umtreibt, warum ein Mensch irgendwann einen Sinn darin erkennt, in einen Wagen zu steigen und in eine Menschenmenge zu rasen. Ich konnte es nicht verstehen oder besser gesagt – ich wollte es nicht verstehen.

Doch es gibt diese Menschen und sie haben ein Motiv. Für sie ergibt es einen Sinn, das zu tun. Wie blind, wie traurig und taub müssen diese Menschen sein. Sie haben ihr emotionales Licht ausgeknipst, sie fühlen nichts mehr, sind ferngesteuert von Mächten, die sich in der Komfortzone ihrer Parallelwelt ein Universum der moralischen Überlegenheit erschufen, um einen Sinn für die von ihnen selbst nicht mehr greifbare Existenz zu finden. Die Kräfte hinter diesen Mächten sind nicht minder traurig, nicht minder getrieben von Sehnsucht und Furcht, um im Glauben, das richtige zu tun, all das zu verraten, wofür wir Menschen uns tatsächlich irgendwann mal das Konzept von Gott und Religion ausgedacht haben. Denn Glaubenswerte haben Gesellschaften zusammengehalten, nicht gespalten. Die Ursprünge jeder Weltreligion finden sich in der Liebe und nicht in der Wut. Sie predigen die Vergebung, nicht die Vergeltung. Was Menschen daraus gemacht haben, ist bekannt.
Immer wieder und immer häufiger gleiten also diese Menschen durch soziale Netze, ganz gleich wie sehr bemüht Staaten und Organisationen sind, es zu verhindern.  Sie verschwinden aus unserem Blickfeld um irgendwann mit der Wucht eines nuklearen Erstschlags in unserer direktem Umgebung wieder aufzutauchen, als Märtyrer einer missbrauchten Geschichte.

Es kann keine offensichtlichere Form der Suche nach Anerkennung und Respekt geben, als in die Öffentlichkeit zu gehen um reihenweise unschuldige Menschenleben zu vernichten.

Und eine weitere Frage kommt auf. Was kann ich tun? Während das Konzept der Vernichtung auf eine noch stärkere soziale Isolation ausgerichtet ist, die nach oben stehendem Prinzip wiederum reihenweise Nachschub für die Seelenfänger der Dunkelheit  generiert, ist die einzige „Waffe“ gegen diesen Terrorismus die Nähe, die Überwindung, die Wärme, das Verständnis und die Vergebung. Mag sarkastisch klingen, ist aber ernst gemeint. Natürlich will man niemandem vergeben, der ohne nachvollziehbaren Grund andere Menschen tötet. Aber vielleicht vergibst du dir selbst.
Denn in dieser hypertransparenten Welt gewinnt Kränkung als Mittel der Demonstration von Überlegenheit an beängstigender Relevanz. Das ist bei Stalkern so, bei Rassisten, bei Facebook-Trollen. Das Prinzip ist stets das gleiche:

„Wenn ich selbst nicht hochkomme, mache ich dich klein, um oben zu sein.“

Echtzeitmedien, postfaktische Wahrheiten, die weltweite Vernetzung auf digitalen Plattformen – all das führt zu einer stärker werden den Konzentration auf Projektionen, die oft nur wenig mit dem wahren emotionalen Zustand zu tun haben. Sozial isoliert ist man zuerst in der wahren Welt, nicht auf Facebook.
Was passiert jedoch, wenn wir uns wieder mehr mit unseren Freunden treffen und ihnen bewusst Anerkennung, Orientierung und Zuspruch schenken?

Was passiert, wenn wir über unseren digitalen Tellerrand schauen, und uns mehr bemühen ein Teil dieser Gesellschaft zu sein und jenen dabei zu helfen, das gleiche zu tun, von denen wir wissen, dass sie diese Hilfe brauchen?

Was passiert, wenn wir Menschen wieder anrufen und sie fragen wie es ihnen geht und es wirklich wissen wollen? Wenn wir einen nachmittag mit einem Bekannten nicht mehr als lästige Ablenkung vom Egoprofiling verstehen, sondern genau anders herum? In dieser Frage liegt meine Hoffnung.
In dieser Idee eine Vision, die mir hilft, diese ganzen Traurigkeiten zu verarbeiten, ohne dabei wieder in der eigenen Dunkelheit zu landen.
Ein wichtiger Artikel zu den Folgen sozialer Isolation.