Der Alarm war pünktlich, ich hingegen zu früh wach.

Eine weitere Nacht mit wenig Schlaf. Kalt abduschen, eine doppelte Portion Frühstücksbrei mit Erdnüssen und Blaubeeren. Dazu ein kaltes Red Bull und einen heissen Americano. Los geht’s. Ich fahre meinen Wagen an den Nordbahnhof und sattele um auf den öffentlichen Nahverkehr. In der Bahn werde ich von Teenagern angestarrt und ich frage mich, ob es an meinem Outfit oder einfach an dem Umstand liegt, dass ich im ÖVNP gemeinhin als Alien wahrgenommen werde. Ich dachte immer, ich sei unsichtbar. Beim Aussteigen stelle ich fest, ich bin nicht unsichtbar. Meine Kollegin Verena steht neben mir und sie kann mich sehen. Wir sind die ersten am Treffpunkt: Starbucks Pariser Platz.

15 Minuten.

Darauf warten zu müssen, dass der Starbucks aufmacht, erinnert mich an obskure Lila-Wolken-Momente. So hat sich die Welt verändert. Jetzt lande ich Sonntagsfrüh um 7 nicht am Pariser Platz, weil uns in keiner Bar mehr Bier ausgeschenkt wird, sondern, weil ich mich zwei Stunden vor dem eigentlichen Beginn am Startpunkt eines 42km langen Laufs einfinde. Hätte mir das unter lila Wolken irgendwann mal jemand prophezeit, ich hätte vermutlich die geistige Unversehrtheit meines Freundeskreises angezweifelt.

Vor dem Start

Keiner wäscht sich nach dem Pullern die Hände im Klo-Container. Ich denke unweigerlich an all die kleinen Händchen, die Kinder den Läufern zum Abklatschen am Wegrand entgegenhalten. Auf dem Weg zum Start entscheidet sich jemand zwei Meter von mir entfernt, kurz vor dem Start noch mal in den Busch zu scheissen. Na danke.

Es geht Los.

Just in dem Augenblick, als die Masse in meinem Block F langsam auf die Startlinie zuschiebt, stelle ich fest, dass meine am Vorabend kompilierte Playlist (habe dafür bis kurz nach Mitternacht gebraucht), nicht für den Offline-Modus heruntergeladen wurde. 40.000 Leute spielen in diesem Moment zeitgleich noch mal kurz vorm Start an ihren Smartphones rum. Das Netz macht schlapp. Panik kriecht in mir hoch. Ich kann nicht laufen, ohne Musik. Ich spiele hastig irgendwelche Songs an, und stelle fest, dass es ewig dauert, bis die Playlist lädt. Innerlich reisse ich mir die Pulsadern aus und schmeisse sie auf die Strasse.

Nach dem Start

Ein riesiges Monstrum mit Tausenden Armen und Beinen wird von der Kette gelassen. Ich kämpfe mich durch, tanze durch die um sich schlagenden Gliedmaßen, wie JayJay von Jamiroquai in seinen Musikvideos über Kinositze. Die ersten 10 Kilometer fliegen an mir vorbei. Gefühlt hole ich noch ein paar Kenianer ein, wenn ich bis zum Schluss durchhalte. Ich werfe meinen Matchplan über die Seitenabsperrung, den frenetisch jubelnden Menschen zu, und laufe einfach so schnell ich kann, so weit ich kann. Nicht, weil ich getrieben bin, eine phänomenale Zielzeit einzustreichen, sondern einfach, weil es so einen verdammten Spaß macht. Langsam setzt sich meine Playlist track für track zusammen und die Sonne lächelt mir ins Gesicht. Ich laufe, als würde sie nur für mich scheinen. Okay. Und ein Bisschen, weil ich eine (für meine Verhältnisse) phänomenale Zielzeit auf einmal für möglich halte. Ich reisse mich zusammen: schließlich ist bei deinem ersten Marathon jede Zielzeit eine Personal Best.

Nach 25 KM

Meine Laufgruppe heisst #boostberlin. Und es ist mittlerweile eine riesige, europaweite Gemeinschaft mit Gruppen in Hamburg, Frankfurt, München, Zürich, Wien, Paris und Moskau. Mit so vielen tollen Leuten gemeinsam als Team auf die Straße zu gehen um zu Laufen ist etwas wirklich besonderes. Gänsehaut gibt es dann, wenn jene, die nicht mitlaufen, am Wegrand stehen und jeden einzelnen mit voller Leidenschaft anfeuern. Ich möchte an dieser Stelle ganz besonders jeder einzelnen Person danken, die sich an so einem schönen Sonntag stundenlang an den Rand stellt, um unter Tausenden von Leuten diejenige zu sein, die deinen Namen ruft und dich bedingungslos nach vorne pusht. Ihr wisst wer ihr seid. Danke.
 BOOSTEUROPE

Nach 30 KM

Während ich die ersten 25km verrückterweise meinen Initial-Pace von um die 5 Minuten halten kann, baue ich schon bei 30km rapide ab. Meine Beine beginnen zu schmerzen, der Asphalt rollt sich auf und wickelt sich um meine Knöchel. Meine Gedanken suchen die Sonne. Wie Obelix seinen Hinkelstein klotze ich die Knochen in die Straße, meine Playlist überrascht mich mit Britney Spears und Atomic Kitten hintereinander und ich muss laut lachen. Ich besinne mich meiner Superkraft, mich in Pumuckl verwandeln zu können, und beschließe so viele Kinderhändchen abzuklatschen, wie ich am Wegrand nur finden kann.

Nach 35 KM

Ich habe inzwischen vergessen, wie es sich anfühlt, keine Schmerzen zu haben. Ich beginne zu verstehen, wieso sich erstaunlich viele Leute vor so einem Lauf Schmerzmittel einschmeissen, auch wenn ich es trotzdem ein bisschen pervers finde. Mehr und mehr Leute überholten mich, es ist, als würde ich rückwärts laufen. Diese ganze Marathon-Nummer geht mir inzwischen einfach nur noch auf den Sack. Zu allem Überfluss verendet die Batterie meines Smartphones. Keine Musik mehr. Keiner, der mir ständig meinen Pace souffliert. Kein Halt mehr. Bodenloser Fall. Kein Sicherheitsnetz. Einen kurzen Augenblick schiesst mir die Suppe in die Augen. Ich frage mich. Echt jetzt? Heulen? Ernsthaft? Wirklich? Innerlich breche ich in Tränen aus. Nach aussen hin lass ich mir nichts anmerken. Ich ziehe einfach mal mein T-Shirt vor den Fotografen hoch. Dabei stelle ich fest, dass meine Nippelfplaster schon längst über Bord gegangen sind. Ich spüre jetzt erst, wie Wund meine Nippel inzwischen schon sind. Im Gesamtschmerz macht das aber auch nicht mehr viel aus.

Nach 37 KM

Pünktlich kommt die bitter notwendige Überraschung. Ich laufe fast komplett am #boostcheeringteam vorbei. Livia und Annkathrin laufen auf die Strecke, in diesem kleinen Augenblick laufe ich innerlich über die Ziellinie. Ich habe es geschafft. Ich werde umarmt, mit Konfetti beworfen und ein Feuerwerk an Endorphinen stürzt sich in mein limbisches System. Wie lange bin ich jetzt bei ihnen? Ist das Rennen schon vorbei? Muss ich etwa noch weiterrennen? Darf ich nicht einfach hier bei Euch stehenbleiben und Schampus trinken? Was ist das nur für ein gemeiner Wettbewerb. Mit einer Flex an Überwindung zerschneide ich die Sehnsucht nach Frieden, die mich an diese Kurve zu fesseln scheint. Ich ziehe weiter.

Nach 40 KM

Wildfremde Leute feuern mich namentlich an. Sie sehen, dass ich ihre Hilfe brauche. Ich muss beschissen aussehen. Unter meinen Armen hat sich die Reibung durch die ersten paar Hautschichten durchgekämpft und schleift sich gemütlich an mein rohes Körperfleisch. Mittlerweile kann ich meinen Pace einschulen lassen – er ist inzwischen über 6. Ich geh jetzt einfach weiter, bis ich da bin. Ich lauf keinen Meter mehr. Meine Zehen beissen von innen in meinen Fuß. Ich werde das nie wieder tun. Marathon laufen ist Wahnsinn. Leichtsinn. Ergibt überhaupt keinen Sinn. Und es gibt ein paar Nerds, die würden so einen Lauf starten, nach dem sie 4 km geschwommen und 180 km Fahrrad gefahren sind. People are awesome? People are insane!

Vor dem Ziel

Mein Verstand kriecht langsam mit hechelnder Zunge ein paar Meter hinter mir her. Ich laufe nebulös auf das Brandenburger Tor zu, das Ziel im Blick. Eine gefühlte Ewigkeit später, bin ich da. Laufe in Zeitlupe durchs Brandenburger Tor. Wieso stehen hier nicht alle Menschen am Ziel? Wieso gibt es keinen Bogen über der Strecke, auf dem ZIEL steht? WIESO IST DAS HIER NICHT SCHON DAS GOTTVERDAMMTE ZIEL? Ich fühle mich betrogen, gedemütigt, getäuscht und will einfach keinen Meter mehr weiterlaufen. Das letzte Bisschen Schweinehund wird langsam mit schweren Schritten auf die Strasse getrieben. Ich töte diesen Schweinehund jetzt. Ich töte alle Gefühle in mir ab. Sie sind schön längst tot. Ich habe nicht mal mehr Lust auf Heulen oder Schampus. Vor mir läuft ein Typ mit “BEASTMODE” Shirt. Meine Phantasie brennt durch. In Gedanken beisse ich mich in seiner Schulter fest und lasse mich von diesem BEAST einfach durchs Ziel zerren.

Zieleinlauf

Kurz vor dem Ziel höre ich meinen Namen von beiden Seiten, ich schaue mich um und sehe eine Gruppe Kollegen, die mich mit ihren Rufen über die Ziellinie schieben. An eine phänomenale Zielzeit hatte ich schon seit über einer Stunde nicht mehr gedacht, erst recht nicht dran geglaubt. Ich taumelte mit der Menge zur Ausgabe von Plastikdecken, Wasser, Kleiderbeutel und Weizenbier (alkoholfrei). Die Stimmung war erschöpft. Schmerz tropfte aus der Luft. Eine Symphonie aus Stöhnen und knackenden Gelenken, knisterndem Plastik und über den Boden gescheuert Laufschuhe. Ich habe gerade meinen ersten Marathon geschafft. Ich bin nicht eingebrochen, habe durchgehalten, habe meine eigenen Grenzen erreicht und überwunden. Die Monotransformation füttert ihre Kinder.

Danach.

Diese Laufveranstaltung bringt meine sozialen Kanäle zum Überkochen. Marathon ist überall. Interessieren sich plötzlich alle fürs Laufen, oder bin ich so biased, dass mein Netzwerk auf einmal so viele sportbegeisterte Freunde sein eigen nennt? Wie berauscht like ich mich durch TwitterFacebook und Instagram, bedanke mich und ziehe mein Resümee. Es war ein perfekter  Tag für mich. Die Schmerzen haben sich gelohnt. In ein und demselben Jahr sowohl meinen ersten Halbmarathon, als auch meinen ersten Marathon zu laufen, das war mein Ziel. Überdimensioniert für meinen Geschmack, aber da stehe ich ja auch ein Bisschen drauf. Accomplished. Welch erhebendes Gefühl. Und – wer hätte das noch gedacht – hat es zu guter letzt dann doch noch zu einer (für meine Verhältnisse) phänomenalen Zielzeit gereicht. Mein kleiner Chip am Schuh generierte das Zeitergebnis und machte mich damit natürlich ein Bisschen stolz. Und wenn sich dann irgendwann mein Hormonspiegel wieder auf den Herbstalltag eingestellt hat, und wenn der Muskelkater dann überwunden ist, werde ich zurückdenken an diesen Sonntag als ein ganz besonderes Abenteuer auf den Straßen dieser Stadt, die so schön in der Septembersonne glänzen kann, als hätte sie letzte Nacht ordentlich Swarovski im Drink gehabt.
(Foto/Titelbild: Marieke)