Ich verstehe diese Welt nicht mehr.

Ein Putschversuch in der Türkei – nur inszeniert zur weiteren Manifestation einer autoritären Regierung? Verwicklungen von Politikern in global organisierter Kriminalität. Drogen-, Waffen-, Menschenhandel, Namen auf schwarzen Listen, konstruierte Verbrechen, zur Verschleierung noch viel schlimmerer Verbrechen? Verschwörungstheorien von Nine-Eleven über Freimaurer, von der Weltbank bis zum Islamischen Staat als Erfindung der CIA. Aids, Zika, Vogelgrippe -Produkte der Pharmaindustrie?

Das Konzept von Gut und Böse.

Von richtig und falsch in dieser Welt erschließt sich mir nicht mehr. Es scheint, je mehr Meinungen möglich sind, dank digitaler Plattformen und sozialer Netzwerke, je mehr Wissen theoretisch für einen Großteil der Menschheit verfügbar ist, desto schwieriger wird es, an irgendetwas da draussen zu glauben. Selbsternannte Spezialisten zerpflücken jedwede Begebenheit, um sich zu profilieren, eine bestimmte Meinung zu positionieren, zu manipulieren. Man nehme alle gegenwärtigen kritischen Konflikte auf der Welt, egal ob Bürgerkriege, internationale Territorialkonflikte oder Cyberwars. Wer blickt noch durch? Wer kann noch unterscheiden, welche Kräfte es sind, die sich für freiheitliche Grundwerte engagieren und welche hingegen nur aus Eigeninteresse, aus Gier nach Macht, Geld und Einfluss agieren?

Allein in Deutschland kann man sich nicht mehr sicher sein, welche Profile auf sozialen Kanälen, die mit Vehemenz und Durchdringung bestimmte Ansichten vertreten, wirklich real sind und ob da nicht auf einer ungeahnten Skala durch eine Armee von automatisierten Bots bewusst Meinungen gepflanzt werden? Manipulation, Populismus, Meinungsmache – angekommen in unserer heilen Facebook-Welt, der Traum von der demokratisierten Crowdwisdom scheint geplatzt, wie eine Seifenblase, die in eine Dunkelkammer voller Monster-Igel gesperrt wurde.

Die digitale Revolution hat neue Führer und wir kennen sie nicht.

Die Ära der künstlichen Intelligenz, die das alles beschleunigen und amplifizieren wird, hat noch nicht mal richtig begonnen. Je tiefer wir eindringen in die Materie, um eine eigene Meinung überhaupt erst möglich zu machen, desto unmöglicher scheint es, das richtige vom falschen, das betrügerische vom gerechten zu unterscheiden. Es fällt immer schwerer noch irgendjemandem, irgendwas zu glauben. Das Vertrauen, dem diese digitale Revolution seine Hoffnung gab, scheint verloren. Jede Situation scheint unendlich verfahren, unmöglich zu dekodieren.

Das Netz hat uns unendliche Möglichkeiten gegeben uns von der der sogenannten globalen Machtelite zu befreien, doch scheint es, als wüssten diese Kräfte mittlerweile besser als wir, wie diese unendlichen Möglichkeiten eingesetzt werden, gegen unsere Ideale einer freien und gerechten Welt. Wer weiss denn überhaupt noch, wer diese 1% sind? Und 1% wovon? Wir flüchten ins Darkweb, in Verschlüsselung, in Peer-to-Peer-Systeme, und es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis diese Strukturen auseinanderfliegen und alle unsere Geheimnisse und Abgründe an die Oberfläche treiben. Und dann beginnt die nächste Welle der Säuberung.

Nicht nur in mir drängt die Sehnsucht nach Glaubwürdigkeit.

Nach Authentizität und Ehrlichkeit. Genug gelogen, da draussen, egal ob im Marketing, im Freundeskreis, in der Beziehung, in der Familie. Ich habe gut reden, muss ich doch nicht damit rechnen, für meine ehrliche Meinung verfolgt, gesteinigt oder öffentlich gehängt zu werden, doch wenn ich nicht in meiner kleinen Filterblase damit anfange, werde ich mich schon bald über nichts mehr freuen können, weil ich nichts und niemandem mehr vertrauen kann. In einer solchen Welt will ich nicht leben.

Ich erinnere mich an eine Geschichte aus meiner jüngeren Vergangenheit. Ich hatte Wieder angefangen zu rauchen und wollte nicht, das mein kleiner Junge es mitbekommt, weil ich ein gutes Vorbild sein wollte, weil ich ihn davor schützen wollte, in die selben Verfügungsfallen zu tappen wie ich, der auch früher einen rauchenden Vater hatte und es hasste. Ich rauchte also heimlich. Und wenn er merkte, das ich nach Rauch rieche behauptete ich, es wären Freunde gewesen, oder mein Shirt hätte von der Bar letzte Nacht noch nach Rauch gestunken (als würde ich so ein Shirt am nächsten Tag wieder anziehen).

Irgendwann wurde mir klar was ich da tat. Wenn ich schon meinen eigenen Sohn anlüge, um das verquere Bild eines perfekten Vaters zu inszenieren, was soll dann eines Tages zurückkommen? Was wird er mir antworten, wenn er mit 16 oder 17 morgens um 8 aus einem Club nach Hause kommt und ich ihn frage, warum er so große Pupillen hat? Werde ich ihm genau dann helfen können, wenn er glaubt, dass er für mich perfekt sein muss, es ihm aber eigentlich beschissen geht? Sicher nicht. Also habe ich mir geschworen, nicht mehr zu lügen, nicht mehr im Job. Nicht mehr in Beziehungen und erst Recht nicht mehr bei meinem Jungen. Er soll sehen, dass ich manchmal schwach bin und Angst habe, das ich manchmal Wasser predige und Wodka trinke, das ich manchmal inkonsequent, irrational, eitel oder einsam bin, denn nur so kann ich ihn vorbereiten auf eine Welt, die vergessen hat, wie wertvoll Aufrichtigkeit ist.

Gleichzeitig ist das für mich der einzige Weg in dieser Welt, die mir zu entgleiten scheint, klarzukommen. Einige meiner Bekannten werden nicht mit dieser Ehrlichkeit zurecht kommen. Entweder, weil sie die Wahrheit einfach nicht interessiert, oder sie gelernt haben, sich taktisch über Meinungsadaptionen ihren Weg zur Anerkennung zu bahnen und ich weiss selbst nur zu gut, wovon ich da spreche. Übrig bleiben jene Leute, die verstehen, dass man nur dann seinen Mund aufmachen sollte, um über die Verlogenheit der Welt zu schimpfen, wenn man selbst verdammt noch mal den Mut aufbringen kann, und ehrlich zu sein, in seiner eigenen kleinen Welt. Und wenn das schon zu schwer fällt, dürfen wir uns nicht beschweren, wenn diese Welt schon bald vor die Hunde geht.