(Foto: Ruben Elster)
Vor etwas mehr als zwei Jahren lief ich meinen ersten Marathon in Berlin im Jahre 2015. Ich war gerade erst ein knappes Jahr bei meinem neuen Arbeitgeber adidas tätig und bin dabei tief in die Materie des Laufsports eingetaucht. So tief, dass auch für mich das “Abenteuer Marathon“ kein Hirngespinst bleiben sollte. Nein, ich wollte es spüren, erfahren, wissen, riechen, schmecken, leiden. Leiden!
Und wie genau sich das anfühlte habe ich seinerzeit, ebenfalls am selben Abend des Rennens in den Laptop gehackt, als gäbe es keinen Morgen danach.
Beitrag „Mein erster Marathon – A True Story.“ hier lesen.
Es war eine einschneidende Erfahrung und eigentlich war klar, dass ich mir diesen Quatsch nicht noch mal antuen werde.
Doch weit gefehlt. Es blieb ganz offensichtlich nicht bei diesem Debüt.
Den Marathon Nummer zwei lief ich erst vor knapp fünf Wochen. Wieder in Berlin. Diesmal aber in der Rolle des Pacers meiner Freundin Gabriella. Pacer heisst hier übersetzt: Tempogeber, Motivator, Berater, Sündenbock und seelischer Mülleimer für den Laufpartner zu sein.
Heute dann Marathon Nummer drei. Marathon Frankfurt, der erste ausserhalb der Heimatstadt. Heute bin ich angetreten, um meine persönliche Bestzeit von 3:38 h, immer noch aus dem Jahre 2015, endlich zu unterbieten. Welcher Motivation solch eine Selbstoptimierungsambition entspringt, darüber liesse sich wie immer viel erzählen. Ich fasse das mal kurz wie folgt zusammen :
- Ein Ziel, das mich dazu motiviert, über 5 Monate fast täglich und teilweise 10+ Stunden pro Woche zu trainieren
- Die Grenzen des eigenen Körpers spüren und überwinden
- Meine Entwicklung als Athlet/Läufer begreifen
- Die Menschen in meinem Leben und mich selbst inspirieren
Erst wollte ich eine Zeit unter 3 Stunden anpeilen, dass dafür notwendige Trainingspensum liess sich jedoch nicht mit meinem Lebensalltag in Einklang bringen. Deswegen also ein Ziel, das realistisch erschien, eine Zeit von 3:15 h oder schneller. Und ob ich es wirklich geschafft habe, einen dafür notwendigen Pace-Durchschnitt von 4.37 min/km über 42,195 km Distanz zu unterbieten, verrate ich euch natürlich erst später.
Aber jetzt ganz von vorne.
Der Frankfurt Marathon wurde netterweise auf jenen Sonntag früh gelegt, an dem uns auf dem Weg zur Winterzeit großzügigerweise eine Stunde geschenkt wird. So wache ich also nach 7.5 Stunden Schlaf bereits um 5:30 Uhr auf und durchlaufe wie ferngesteuert meine tägliche Routine aus Dehnen, Meditieren und lesen. Ich frühstücke für drei breche mit meinen Kollegen auf in die adidas Runners Race Base. Dort wird das obligatorische Team-Foto geschossen, bevor es dann gegen 09.30 Uhr weitergeht zum Start. Ich gebe meinen Beutel ab, dehne mich noch mal und laufe runter zum Ziel. Während Regen, Wind und Nässe erwartet wurde, bricht pünktlich zum Startschuss die Sonne durch.
Vor dem Start.
Ich fühle mich gut, habe viel trainiert die letzten Monate, stelle lediglich fest, dass mein Frühstück noch nicht wirklich abgebaut wurde, weswegen sich die Magengegend anfühlt, als hätten mir ein paar fiese Geißlein dicke Kieselsteine in den Bauch genäht. Egal, denke ich, das baut sich bis Kilometer 5 ab, und dann lege ich los.
Los gehts.
Die ersten Kilometer vergehen wie im Flug. Irgendwie scheint es egal zu sein, von welchem Startblock ich loslaufe, ich habe immer das Gefühl das alle langsamer sind als ich und frage mich gleich dabei, ob ich nicht vielleicht doch etwas zu schnell unterwegs bin, denn meine Rennstrategie sieht vor, die erste Hälfte mit einem entspannten 4:40-4:45 m/km Pace zu beginnen um dann nach hinten raus noch mal auf 4:30 oder schneller zu kommen. Klappt aber nicht. Ich kann mich einfach nicht zurück halten und breche gleich mit einem 4:20er Schnitt los, was sich „nach hinten raus” noch rächen soll. Aber das ist das Problem – es fühlt sich so selbstverständlich an, so leicht und locker, so frei und normal. Als wäre es egal, ob ich bis zum Mond, der Sonne oder nach Berlin laufe. Ein üblicher Anfängerfehler denke ich mir und werde mir gewahr, dass es ja erst mein dritter Marathon ist und ich somit ebenfalls zu der Gruppe blutiger Anfänger gehöre, die noch viel Erfahrung brauchen, um diese Mechanik wirklich zu begreifen.
Ergo: Während die ganzen Läufer um mich herum das wohl begriffen zu haben scheinen, laufe ich grinsend an ihnen vorbei und rechne mir fröhlich eine Zeit unter 3 Stunden zurecht. Zahlen zerwuseln wie zu weich gekochte Nudeln meinen Neocortex, ich breche die unheilige Rechnerei ab und fokussiere mich wieder auf meinen Rennplan.
Kilometer 10.
Im Gegensatz zum Berlin Marathon ist Frankfurt deutlich weniger chaotisch. Keine Leute die in den Busch kacken. Keine nackten Bodypaint-Wettverlierer, keine Weltrekord-Ambitionen. Und viel weniger Leute auf der Strecke, viel weniger Kinderhände, die es abzuklatschen gilt wie in einem 90er Jahre Amiga500 Spiel und weniger Ablenkung auf der Strecke. Mir fällt der geordnete Laufrahmen erst auf, als ich bei Kilometer 10 einen Typen überhole, der schwer atmend komplett im Dreiteiler mit Krawatte unterwegs ist. Inkonsequenterweise trug er keine italischen Designer-Lederschuhe.
Kilometer 15.
Langsam bekomme ich ein gutes Gefühl für diesen Lauf. Es geht leicht auf und ab, mein Tempo bleibt stabil um die 4:30, mein Frühstück ist bereits Geschichte und ich überhole kaum noch jemanden. Ab und an treffe ich am Seitenrand Menschen die mich kennen, meinen Namen rufen und mich anfeuern. Meine Dopmaninschleusen feiern das jedes Mal wie eine Henkersmahlzeit und hauen das gute Zeug nur so raus, als gäbe es einen Mindestbestellwert. Danke an jede einzelne Person, die sich bei einem solchen Wetterchen (auch wenn dann die Sonne schien, es war trotzdem sau-windig) da hinstellt und anfeuert. Das ist unfassbar großartig von Euch. Manche reisen die Hunderten Kilometer nur mit um genau das zu tun und seit Erfindung von (Lauf-)Communities ist genau diese Art der bedingungslosen Unterstützung etwas, das mir jedes mal die Tränen in die Augen treibt. Und damit wären wir bei einem sehr delikaten Thema.
Keine Ahnung ob meine Glückshormon-Ausschüttung durch das viele Training, die frische Luft oder einfach durch das grenzenlos großartige Leben, dass ich jeden Tag erleben darf, so kräftig ausfällt ist oder ob es einfach nur an all den Schmerzen liegt, die auf den richtigen Kanal gewartet haben, auszubrechen – Das Rennen wird zur emotionalen Achterbahn. Irgendwas zwischen Liebe und Schmerz, auch wenn wir alle wissen, dass die beiden aus dem selben Lager stammen und vermutlich sehr eng verwandt sind.
Kilometer 20.
Pünktlich zum ersten echten Tief, dass sich einstellt, als ich merke, dass ich mit irgendwas um die 4:19 min/km der letzten Kilometer nicht bis zum Schluss durchhalten kann, setzt ein richtig fieser Sprühregen ein, frontal von Vorne logischerweise und physikalisch nicht überraschend gepaart mit hartem Gegenwind. Es war, als entschied sich Petrus seine posthum passabel ausgedehnte Blase über mir zu entleeren, und als wäre ich in Jim Carrey Manier der einzige, der da vollgepullert wird. Die Sonne scheint. Mir wird irgendwie komisch. Wo ist der Regenbogen. Warum schauen die Leute alle weg. Wieso überholen mich auf einmal nur noch Leute über 60. Was wohl mit meinem Frühstück passiert ist. Wieviel Gels ich noch in der Hosentasche mitführe. Warum ich das Ladegerät für mein Handy dabei habe. Warum ich mein Handy dabei habe. Wie sehr mich die Playlist mittlerweile langweilt. Aber dann kommt Alanis Morissette, gefolgt von den absoluten Beginnern. Aus irgendeinem Grund immer gleich hintereinander. Ich greife an meine Seite, muss mich kurz vergewissern, dass ich nicht auch noch meine Fotokamera, meinen Rucksack oder einen Beutel Leckerli für den Hund dabei habe. Ich drehe mich um und sehe einfach in sehr viele Gesichter. Ich ärgere mich, dass ich mich umgedreht habe, schaue auf meine Renn-Uhr in der Erwartungshaltung damit wieder ein paar Sekunden verschwendet zu haben und bin verloren im Chaos der Ablenkung. All die Meditation, all die Vorbereitung auf die paar Stunden Fokus – ich bin und bleibe ein Mann der einfach nur spüren will wie Leben geht, und dabei Schmerz und Wahnsinn in Kauf nimmt um nicht auf dumme Gedanken zu kommen. Was natürlich kompletter Unsinn ist, und nicht wirklich funktioniert.
Kilometer 25.
Am Horizont entdecke ich gelbe Luftballons die sich mit der Masse fortbewegen, ich laufe Stück für Stück näher heran, bis ich sehe um was es sich da handelt. Es ist die Packgruppe 3:14 h, also jene Leitläufer, die als Orientierung für Leute wie mich unterwegs sind, die eine bestimmte Zielzeit haben. Ich hole sie ein, doch muss die Gruppe bald danach wieder an mir vorbeiziehen lassen. Meine Kilometerwerte werden zusehends schwächer, mein Körper schwerer, meine Beine härter. Ich nehme alles nur noch durch einen Wattebausch der Betäubung war, mein Hormonspiegel tanzt Salsa auf dem Vulkan und nur all dieser Botenstoffe ist es zu verdanken, dass ich nicht gleich hier und jetzt eine Pause mache, die niemals endet.
Kilometer 30.
Da ist es wieder. Das Gefühl das die Strasse mich fressen will. Mit jedem Schritt beisst sie zu, immer höher. immer tiefer. Bei jedem Schritt gibt der Asphalt nach, zieht sich zusammen um meinen Fuß zu verschlingen, und mit jedem Schritt wird es schwerer in aus dem Boden zu ziehen. In Gedanken sitze ich am Wegrand und streichle über die Straßenoberfläche. Ist das echt? Ist hier irgendwas echt? Passiert das hier alles oder denke ich mir das aus? Die Realität ist ein dehnbarer Begriff und dieser Asphalt ist ganz offensichtlich ein noch dehnbarer Belag. Nichts gilt mehr. Einstein hatte Recht. In einem Paralleluniversum reite ich auf einem Schimmel an einem Strand entlang und habe schulterlange, blonde Haare. Und Delphine singen laut die Playlist mit. Gerade läuft “Air Is Free” von Johnossi.
Kilometer 37.
Eine Armee der Liebe steht am Wegrand, Konfettikanonen werden abgeschossen, Serotoninwellen durchströmen meinen schmerzgeplagten Körper. Die adidas Runners Cheerpoint-Crew ist da. Freunde, Kollegen, Mitstreiter schreien, jubeln und pushen als ginge es um alles. Und es geht um alles. Um diesen einen Moment, diese Kraft, die entfesselt wird, durch das gemeinsame Streben nach Wachstum, nach vorne, nach oben. Ich lächle, denn das ist alles was ich schaffe, ich bin sprachlos, verloren im Rausch der Geschwindigkeit. Es ist dieser Moment, der mich umhaut, ein paar hundert Meter weiter bahnen sich dicke Tränen ihren Weg hinab auf den Asphalt.
Kilometer 40.
Schritt für Schritt bahnen sich meine steinernen Beine ihren Weg durch die Innenstadt. Links herum, rechts herum, eine Gerade und die nächsten Kurven. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Kamerateams auf Motorrädern rollen zwischen den Läufern hindurch. Ich blicke in die Sonne. All die Monate des harten Trainings, all die frühen Morgen, all die späten Abende, alles nur für dieses Rennen. Ich bin dieses Jahr mehr als 1000 Kilometer gelaufen, um diese letzten zwei Kilometer zu überwinden. Ich liege gut in der Zeit, ich weiss, ich werde mein Ziel erreichen, ich weiss jetzt, ich habe es so gut wie geschafft.
Kilometer 41.
Ich suche in der Ferne den Ziel-Einlauf, immer und immer wieder tauchen Bögen über der Strecke auf, doch keines dieser Gebilde ist das Ziel. Später erst realisiere ich, dass das Ziel dieses famosen Rennens in der Messehalle steht. Ich nehme alle meine Kräfte zusammen, orientiere mich an den Gedanken an den Weg bis hierhin.
Das Ziel.
Strahler beleuchten den Innenraum, Blitzlichtgewitter. Rechts und links sitzen Menschen auf den Tribünen und feuern die Teilnehmer über die Ziellinie. Noch 20 Meter und ich bin da. Stille. Ich bin durchgekommen in 3:12:14 und Sekunde für Sekunde baut sich die Spannung ab. Was bleibt ist Leere, Schwindel, Übelkeit. Ein paar Meter weiter bekomme ich meine Medaille, hole mir einen Becher Limo, einen Apfel und versuche mein Gleichgewicht wieder zu finden. Es soll noch mehrere Stunden dauern, bis mir das gelingt.
Etwas später liege ich immer noch benommen im Hotelbett und scrolle mich durch die Social Media Blase, in der ich seit Monaten gefangen bin. Es geht nur noch ums Laufen. Mein Instagram-Feed sieht aus, als hätte ich kein Leben mehr jenseits der Runbase, jenseits der Straße, jenseits des Sports. Diverse Freunde aus alten Tagen wenden sich völlig zurecht gelangweilt ab. Running is the new Raving, das ist in meinem persönlichen Fall wohl sehr zutreffend.
Dieses Gefühl der totalen Erschöpfung gibt mir Recht. Ich bin an meine Grenze gestoßen und habe sie überwunden. Ich habe ein halbes Jahr auf ein Ziel hingearbeitet und es erreicht. Ich habe meine eigenen Schwächen auf die Probe gestellt und mich in Geduld, Hartnäckigkeit, Disziplin, Bescheidenheit und Demut geübt. Ich bin heute wieder ein Stückchen gewachsen, in mir drin und über mich hinaus.
Und es dauert keine 2 Stunden nach diesem epischen Moment, da ich wieder über die nächsten Ziele nachdenke. Und ich habe da ein paar verwegene Ideen…