Am fünften Januar nächsten Jahres beginnt mein dreizehntes Jahr in dir, Berlin. Ich bin bei dir erwachsen geworden, habe mit dir Kinder großgezogen, mich an deinen Wände blutig gearbeitet und mich in deinem Labyrinth verloren. Ich bin hier Kind geblieben, hab das Erwachsensein überwunden, mich von Unterwerfung befreit und entdeckte erst in deiner Dunkelheit meinen eigenen Weg.

Du bist etwas besonderes. Noch so grün hinter deinen Bärenohren. Alles an dir ist ein Bisschen vergänglicher als bei deinen großen Geschwistern in Europa. Alles ein Bisschen leichter, allein schon, weil sich in Paris, London oder Kopenhagen keiner das karitative Sinnsuchen als Kernbeschäftigung für mehr als ein paar Wochen leisten kann. Das macht dich unberechenbarer und schnittiger, deine Sozialpoeten sind kreativer, deine Melodien selbstvergessener.

Du hast noch Ideale. Du bist angetrieben, von dem Glauben an eine bessere Welt, nicht zuletzt weil du für diesen Traum aller Menschen vor 27 Jahren zur Gallionsfigur ernannt wurdest . Du vergoldest deine Knospen, gibst dir große Mühe, den Verlockungen des Kapitals zu widerstehen und zehrst aus einem tiefen Boden aus Hoffnung und Bedingungslosigkeit. Deinen Status in der Welt interessiert die Welt mehr als dich, du regst dich nur auf, wenn Streetartists ihre eigenen Murials aus Protest schwarz übermalen, weil es dir zeigt, dass auch du ständig Geschenke annimmst, die du eigentlich gar nicht willst.

Du bist offen für die Welt und deswegen ist die Welt auch so verdammt gern hier. Jeder freut sich auf dich. Auf deine dir eigene Kunst, Entgrenzung zu kultivieren, entlang der gesamten Bandbreite an Bedeutungen. Du machst deine Fenster weit auf, damit alle reinschauen können, und auch um deinen eigenen Leuten zu vergegenwärtigen, “seht her, die Mauern sind runter, alles was ihr seht, all das gehört euch. Geht los, schaut euch alles an, und kommt dann zurück zu mir und bringt mir etwas mit von überall, damit ich weiter blühen kann in Regenbogenfarben”.

Und draussen sitzen die, die sich nicht reintrauen, in dein Gesellschaftslabor, die Angst haben, vor einer anderen Seite, vor neuen Blickwinkeln, vor der Zukunft. Die zu schwach sind, um sich allein aus ihrer Angst zu befreien und sich leiten lassen, von glühenden Führern und vergifteten Propheten. Und manchmal, wenn Du mal wieder ihr Rufen und Klopfen überhörst, weil du zu lange deinen Instagram Feed runtergescrollt hast, schmeissen die Einsamen ihre Einsamkeit in dein Fenster und überfordern dich damit. Und du machst einen Bogen um diesen Haufen Einsamkeit, bis er zu stinken beginnt, und sich langsam in eine ansteckende Krankheit verwandelt. Du versuchst es zu isolieren, aber dafür ist es schon zu spät.

Doch auch dann verlierst du nicht den Mut. So wie ich dich kenne, wirst du dich neu erfinden, vielleicht entdecken, dass die Krankheit gar eine Transformation evolutionären Ausmaßes mit sich bringt. Du hast keine Angst zu verlieren, denn du kannst jeder Stadt der Welt lehren, was es heisst aus Asche wiederaufzuerstehen.